ZWEIUNDZWANZIG
Obgleich Haven nicht ans Telefon ging, als wir sie anriefen, bekamen wir schließlich Miles zu fassen. Und nachdem wir ihn überredet hatten, nach der Probe vorbeizukommen, tauchte er mit Eric auf. Zu viert verbrachten wir einen sehr lustigen Abend damit, zu essen, zu schwimmen und uns schlechte Gruselfilme anzusehen. Und es war so schön, auf so nette, entspannte Art und Weise mit meinen Freunden abzuhängen, dass ich darüber Riley, Haven, Evangeline, Drina und den Strand beinahe vergessen hätte - und das ganze Drama dieses Nachmittags.
Dass ich beinahe den geistesabwesenden Blick nicht bemerkt hätte, den Damen immer hatte, wenn er glaubte, niemand würde es sehen.
Dass ich beinahe die Unterströmung der Beklommenheit nicht beachtet hätte, die dicht unter der Oberfläche brodelte.
Beinahe. Aber nicht ganz.
Und obwohl ich eindeutig klargemacht hatte, dass Sabine verreist sei und dass Damen gern bleiben könne, blieb er gerade so lange, bis ich eingeschlafen war, und schlich sich dann leise hinaus.
Als er am nächsten Morgen mit Kaffee, Muffins und einem Lächeln vor der Haustür steht, kann ich also nicht anders, ich bin ein bisschen erleichtert.
Wir versuchen noch einmal, Haven anzurufen, und sprechen ihr sogar ein- oder zweimal auf die Mailbox, doch man braucht keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass sie weder mit ihm noch mit mir reden will. Und als ich schließlich bei ihr zuhause anrufe und mit ihrem kleinen Bruder Austin spreche, merke ich, dass er nicht lügt, als er sagt, er hätte sie nicht gesehen.
Nachdem wir uns also einen ganzen Tag am Pool herumgeaalt haben, bin ich schon drauf und dran, wieder eine Pizza zu bestellen, als Damen mir das Telefon aus der Hand nimmt und sagt: »Ich dachte, ich mache mal Abendessen.«
»Du kannst kochen?« Ich weiß allerdings nicht recht, warum ich überrascht bin, denn bis jetzt habe ich noch nichts gefunden, was er nicht kann.
»Das zu beurteilen überlasse ich dir.« Er lächelt.
»Brauchst du Hilfe?«, biete ich an, obgleich meine Fähigkeiten in der Küche sich darauf beschränken, Wasser zu kochen und Milch über Cornflakes zu gießen.
Doch er schüttelt den Kopf und marschiert zum Herd, also gehe ich nach oben, dusche und ziehe mich um. Als er ruft, dass ich herunterkommen soll, ist zu meinem Erstaunen der Tisch im Esszimmer mit Sabines bestem Porzellan gedeckt, einschließlich Tischdecke, Kerzen und einer großen Kristallvase voller - Riesenüberraschung! - dutzender roter Tulpen.
»Mademoiselle.« Lächelnd zieht er meinen Stuhl heraus; sein französischer Akzent ist melodiös und vollkommen.
»Ich glaub's nicht, dass du das gemacht hast.« Ich betrachte die vor mir aufgereihten Platten, auf denen sich so viel Essen häuft, dass ich mich frage, ob wir Gäste erwarten.
»Alles für dich.« Er lächelt und beantwortet die Frage, die ich noch gar nicht gestellt habe.
»Nur für mich? Isst du denn gar nichts davon?« Ich sehe zu, wie er meinen Teller mit vollendet zubereitetem Gemüse füllt, mit wunderbar gegrilltem Fleisch und einer Soße, die so köstlich und komplex ist, dass ich nicht mal weiß, was das ist.
»Natürlich.« Er lächelt. »Aber ich hab's hauptsächlich für dich gemacht. Als Mädchen kann man doch nicht nur von Pizza leben.«
»Du würdest dich wundern«, lache ich und zerschneide ein saftiges Stück Grillfleisch.
Während wir essen, stelle ich Fragen. Ich nutze die Tatsache aus, dass er sein Essen kaum anrührt, indem ich all das frage, was ich schon lange unbedingt wissen möchte, wonach zu fragen ich aber anscheinend immer vergesse, wenn er mir in die Augen sieht. Nach seiner Familie, seiner Kindheit, den ständigen Umzügen, seiner Mündigkeit - zum Teil, weil ich neugierig bin, vor allem aber, weil es sich komisch anfühlt, eine Beziehung mit jemandem zu haben, über den ich so wenig weiß. Und je mehr wir reden, desto verblüffter bin ich, wie viel wir gemeinsam haben. Zum einen sind wir beide Waisen, obgleich er viel jünger war, als er seine Eltern verloren hat. Und auch wenn er nicht allzu sehr auf Einzelheiten eingeht, ich reiße mich ja auch nicht gerade darum, über meine Situation zu sprechen, also bedränge ich ihn nicht besonders.
»Und wo gefällt es dir am besten?«, erkundige ich mich, nachdem ich gerade den letzten Bissen auf meinem Teller vertilgt habe und die ersten Anfänge träger Sattheit verspüre.
»Genau hier.« Er lächelt; er hat kaum etwas gegessen, aber das Essen nach besten Kräften auf dem Teller herumgeschoben. Ich kneife die Augen zusammen und glaube ihm nicht recht. Ich meine, klar, Orange County ist schön, aber doch ganz sicher nicht mit all diesen aufregenden europäischen Städten zu vergleichen, oder?
»Im Ernst. Ich bin sehr glücklich hier.« Er nickt bekräftigend und sieht mich an.
»Und in Rom, Paris, Neu Delhi oder New York warst du nicht glücklich?«
Er zuckt die Achseln, und in seinen Augen liegt plötzlich ein Hauch Traurigkeit, als sie sich von meinen lösen und er einen Schluck von seinem seltsamen roten Getränk nimmt.
»Und was genau ist das da eigentlich?«, frage ich und mustere die Flasche eingehend.
»Du meinst das hier?« Lächelnd hält er sie hoch. »Geheimes Familienrezept.« Er lässt den Inhalt in der Flasche kreisen, und ich sehe, wie die Farbe leuchtet und funkelt, als die Flüssigkeit an den Wänden emporsteigt und wieder hinunterläuft. Und dabei aussieht wie eine Kreuzung aus Blitzen, Wein und Blut, vermischt mit einer winzigen Prise Diamantstaub.
»Kann ich mal probieren?«, frage ich; ich weiß nicht genau, ob ich das möchte, aber neugierig bin ich trotzdem.
Er schüttelt den Kopf. »Das magst du bestimmt nicht. Schmeckt genau wie Medizin. Aber das kommt wahrscheinlich daher, dass es Medizin ist.«
Mein Magen fällt ins Leere, und ich starre ihn an, male mir eine ganze Latte unheilbarer Krankheiten aus, grauenvoller Gebrechen, schwerer Leiden - ich habe ja gewusst, dass er zu toll ist, um wahr zu sein.
Doch er schüttelt nur lachend den Kopf, während er nach meiner Hand greift. »Keine Angst. Ich hab nur manchmal ein bisschen wenig Energie. Und das hier hilft.«
»Wo kriegst du das denn her?« Blinzelnd suche ich auf der Flasche nach einem Etikett, aber sie ist durchsichtig, glatt und scheint fast aus einem Guss zu sein.
Er lächelt. »Ich hab's dir doch gesagt, geheimes Familienrezept«, sagt er und trinkt die Flasche mit einem tiefen, langen Zug leer. Dann schiebt er seinen vollen Teller weg und fragt: »Gehen wir schwimmen?«
»Muss man nach dem Essen nicht eine Stunde warten?« Unverwandt schaue ich ihn an.
Er lächelt nur und nimmt meine Hand. »Keine Angst. Ich lasse dich schon nicht ertrinken.«
Da wir den größten Teil des Tages im Pool verbracht haben, beschließen wir, es uns stattdessen im Jacuzzi gemütlich zu machen. Und als unsere Finger und Zehen allmählich kleinen Backpflaumen zu ähneln beginnen, hüllen wir uns in riesige Handtücher und gehen hinauf in mein Zimmer.
Er folgt mir ins Bad, wo ich mein feuchtes Handtuch auf den Boden fallen lasse, dann tritt er von hinten an mich heran, zieht mich an sich und hält mich so fest, dass unsere Körper miteinander verschmelzen. Als seine Lippen meinen Nacken streifen, ist mir klar, dass ich lieber ein paar Spielregeln festlegen sollte, solange mein Gehirn noch funktioniert.
»Ah, du kannst gern bleiben«, murmele ich und mache mich los. Meine Wangen brennen vor Verlegenheit, als ich seinen belustigten Blick sehe. »Ich meine, was ich sagen wollte, war, ich möchte gern, dass du bleibst. Wirklich. Aber, na ja, ich weiß nicht, ob wir ... du weißt schon.«
0 Gott, was rede ich da? Ah, hallo, als ob er nicht wüsste, was ich meine. Als wäre er nicht derjenige, der in der Höhle abgeblitzt ist, und so ziemlich überall sonst. Was ist los mit dir? Was machst du eigentlich? Jedes andere Mädchen würde für einen Augenblick wie diesen morden: ein langes, faules Wochenende ohne Eltern oder Aufsichtspersonen ... und hier stehe ich und stelle irgendwelche blöden Regeln auf... völlig ohne Grund...
Er legt mir den Finger unters Kinn und hebt mein Gesicht an, bis es auf einer Höhe mit seinem ist. »Ever, bitte, das hatten wir doch schon«, flüstert er, streicht mir das Haar hinters Ohr und drückt die Lippen auf meinen Hals. »Ich kann warten, wirklich. Ich habe schon so lange darauf gewartet, dich zu finden - ich kann noch länger warten.«
In die Krümmung von Damens warmem Körper gekuschelt, sein Atem tröstlich an meinem Ohr, schlafe ich sofort ein. Und obwohl ich Angst hatte, dass mich seine Anwesenheit viel zu nervös machen würde, als dass ich zur Ruhe kommen könnte, ist es das warme, geborgene Gefühl, ihn dicht neben mir zu haben, das mir beim Einschlafen hilft.
Doch als ich morgens um Viertel vor vier aufwache und feststelle, dass er nicht mehr da ist, werfe ich die Bettdecke zurück und eile zum Fenster, durchlebe abermals diesen Moment in der Höhle, als ich die Einfahrt nach seinem Wagen absuche und verblüfft sehe, dass er noch immer dort steht.
»Suchst du mich?«, fragt er.
Ich drehe mich um und sehe ihn in der Tür stehen. Mein Herz schlägt wie wild, mein Gesicht ist dunkelrot. »Oh, ich ... Ich habe mich umgedreht, und du warst nicht da, und -« Ich presse die Lippen zusammen und komme mir albern vor, klein, geradezu peinlich bedürftig.
»Ich bin nach unten gegangen, ich wollte mir ein bisschen Wasser holen.« Lächelnd nimmt er meine Hand und führt mich zurück zum Bett.
Während ich mich hinlege, schiebt sich meine Hand zu seiner Seite hinüber und streift das Laken, so kalt und verlassen, dass es den Anschein hat, als wäre er sehr viel länger fortgewesen.
Als ich zum zweiten Mal aufwache, bin ich abermals allein. Doch ich höre Damen in der Küche herumrumoren, also ziehe ich meinen Bademantel an und gehe nach unten, um nachzusehen.
»Wie lange bist du denn schon auf?«, erkundige ich mich und betrachte die makellose Küche. Das Durcheinander von gestern Abend ist verschwunden und hat einem Sortiment von Donuts, Bagels und Müsli Platz gemacht, das nicht aus meinem Küchenschrank stammt.
»Ich bin Frühaufsteher. Also habe ich gedacht, ich räume ein bisschen auf, ehe ich zum Einkaufen flitze. Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben, aber ich wusste nicht, was du möchtest.« Er lächelt, kommt um den Tresen herum und küsst mich auf die Wange.
Ich trinke einen Schluck aus dem Glas mit frisch gepresstem Orangensaft, das er vor mich hinstellt, und frage: »Möchtest du auch? Oder fastest du immer noch?«
»Fasten?« Er zieht eine Braue hoch und sieht mich an.
Ich verdrehe die Augen. »Also bitte. Du isst weniger als jeder andere Mensch, den ich kenne. Du nippst immer nur an deiner ... Medizin und spielst mit deinem Essen rum. Neben dir komme ich mir vor wie ein totaler Vielfraß.«
»Besser so?« Lächelnd nimmt er einen Donut und beißt ihn in der Mitte durch; sein Kiefer arbeitet heftig, um der glasierten Teigmasse Herr zu werden.
Ich zucke die Achseln und blicke aus dem Fenster; dieses kalifornische Wetter ist nach wie vor ungewohnt: eine scheinbar endlose Folge warmer, sonniger Tage, obwohl bald offiziell Winter sein wird. »Also, was machen wir heute?«, frage ich.
Er schaut auf die Uhr. »Ich muss bald los.«
»Aber Sabine kommt doch erst später zurück«, wende ich ein, und es ist mir zuwider, dass meine Stimme so weinerlich und flehend klingt, dass mein Magen sich zusammenkrampft, als er mit seinem Autoschlüssel klimpert.
»Ich muss nach Hause und mich um ein paar Sachen kümmern. Vor allem, wenn du mich morgen in der Schule sehen willst«, sagt er, und seine Lippen streifen meine Wange, mein Ohr, meinen Nacken.
»Ach ja, Schule. Gehen wir denn noch zur Schule?« Ich lache, bis jetzt ist es mir gelungen, nicht an meine jüngsten Schwänzereien und an den Arger zu denken, den es deswegen geben wird.
»Du bist diejenige, die denkt, das sei wichtig. Wenn's nach mir ginge, wäre jeder Tag Samstag.«
»Aber dann wäre der Samstag doch gar nichts Besonderes mehr. Es wäre immer alles dasselbe«, gebe ich zu bedenken und pflücke ein Stück von einem glasierten Donut ab. »Ein unendlicher Strom langer, fauler Tage, nichts, worauf man hinarbeiten, nichts, worauf man sich freuen könnte. Einfach nur ein vergnügungssüchtiger Moment nach dem anderen. Nach einer Weile wäre das gar nicht mehr so toll.«
»Sei dir da nicht so sicher.« Er lächelt.
»Also, was genau sind denn das für mysteriöse Sachen, die du erledigen musst?«, erkundige ich mich und hoffe, einen flüchtigen Blick in sein Leben werfen zu können, auf die eher weltlichen Dinge, die seine Zeit ausfüllen, wenn er nicht mit mir zusammen ist.
Er zuckt mit den Schultern. »Ach, du weißt schon, so alles Mögliche eben.« Und obwohl er dabei lacht, ist es ziemlich offensichtlich, dass er jetzt gehen möchte.
»Na ja, vielleicht kann ich ja -« Doch noch ehe ich den Satz beenden kann, schüttelt er den Kopf.
»Vergiss es. Kommt nicht infrage, dass du meine Wäsche wäschst.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen, als würde er sich für ein Wettrennen aufwärmen.
»Aber ich möchte sehen, wo du wohnst. Ich war noch nie in der Wohnung von jemandem, der als Minderjähriger für sich selbst verantwortlich ist, und ich bin neugierig.« Und obgleich das eigentlich ganz locker klingen sollte, kam es eher jämmerlich und verzweifelt heraus.
Wieder schüttelt er den Kopf und schaut zur Tür, als wäre sie eine potenzielle Geliebte und er könne es gar nicht erwarten, sie kennen zu lernen.
Es ist ganz offenkundig an der Zeit für mich, die weiße Fahne zu schwenken und zu kapitulieren, trotzdem kann ich nicht anders, ich muss es noch einmal versuchen: »Aber warum?« Dann betrachte ich ihn eingehend und warte auf einen Grund.
Er sieht mich an, und sein Unterkiefer ist angespannt, als er antwortet: »Weil da das totale Durcheinander herrscht. Ein widerliches, dreckiges Durcheinander. Und ich will nicht, dass du es so siehst und einen falschen Eindruck von mir bekommst. Außerdem kriege ich das nie im Leben aufgeräumt, wenn du dabei bist, du lenkst mich nur ab.« Er lächelt, doch seine Lippen sind straff gespannt, und aus seinen Augen spricht die Ungeduld. Ganz eindeutig sind das lediglich Worte, die den Raum zwischen diesem Augenblick und jenem füllen sollen, wenn er endlich das Weite suchen kann. »Ich ruf dich heute Abend an«, sagt er und kehrt mir den Rücken zu, während er zur Tür geht.
»Und was ist, wenn ich beschließe, dir zu folgen? Was machst du dann?«, frage ich, und mein nervöses Lachen verstummt augenblicklich, als er sich zu mir umdreht.
»Tu das lieber nicht, Ever.«
Und so wie er das sagt, frage ich mich unwillkürlich, ob es jetzt Tu das lieber nicht oder Tu das LIEBER NICHT! heißen sollte. Aber es bedeutet ja so oder so dasselbe.
Nachdem Damen davongefahren ist, greife ich nach dem Telefon und versuche, Haven anzurufen. Sofort meldet sich die Mailbox, und ich mache mir nicht die Mühe, noch eine Nachricht zu hinterlassen. Denn die Wahrheit ist, das habe ich bereits mehrmals getan, und jetzt ist es an ihr, sich zu melden. Nachdem ich also nach oben gegangen bin und geduscht habe, setze ich mich an meinen Schreibtisch, fest entschlossen, meine Hausaufgaben zu machen. Doch ich komme nicht sehr weit, bevor meine Gedanken wieder bei Damen sind und bei all seinen komischen, geheimnisvollen Macken, die ich nicht länger ignorieren kann.
Sachen wie: Woher weiß er anscheinend immer genau, was ich gerade denke, wenn ich seine Gedanken überhaupt nicht lesen kann? Und wie konnte er in gerade mal siebzehn kurzen Jahren Zeit haben, in all diesen exotischen Städten zu leben und es in Kunst, im Fußball, Surfen, Kochen, in Literatur, Geschichte und so ziemlich allem anderen, was mir einfällt, so weit zu bringen? Und was ist mit seiner Art, sich so schnell zu bewegen, dass man ihn tatsächlich nur noch ganz verschwommen sieht? Und die Rosenknospen, die Tulpen und der magische Stift? Gar nicht zu reden davon, dass er einmal wie ein ganz normaler Junge redet, und im nächsten Moment hört er sich an wie Heathcliff oder Darcy oder irgendjemand anderes aus einem Buch der Bronte-Schwestern. Und dazu kommt noch dieser Moment, als er sich verhalten hat, als könne er Riley sehen, die Tatsache, dass er keine Aura hat, die Tatsache, dass Drina keine Aura hat, die Tatsache, dass ich weiß, dass er etwas verbirgt, von wegen, woher er sie wirklich kennt - und jetzt will er nicht, dass ich erfahre, wo er wohnt?
Nachdem wir miteinander geschlafen haben?
Okay, vielleicht haben wir ja wirklich nur geschlafen, aber ich finde trotzdem, mir stehen Antworten auf wenigstens einige (wenn nicht auf alle) meiner Fragen zu. Und obwohl ich nicht wirklich in die Schule einbrechen und nach seinen Unterlagen suchen kann, kenne ich doch jemanden, der das hinkriegt.
Nur bin ich nicht sicher, ob ich Riley da reinziehen sollte. Ganz abgesehen davon, dass ich gar nicht weiß, wie ich sie rufen soll, weil das bisher niemals nötig war. Ich meine, soll ich ihren Namen rufen? Die Augen schließen und sie mir herbeiwünschen?
Da es mir ein bisschen dämlich vorkommt, eine Kerze anzuzünden, begnüge ich mich schließlich damit, mit fest geschlossenen Augen mitten im Zimmer zu stehen und zu sagen: »Riley? Riley, wenn du mich hören kannst, ich muss wirklich mit dir reden. Na ja, eigentlich musst du mir so eine Art Gefallen tun. Aber wenn du's nicht machen willst, dann kann ich das total verstehen, und ich nehm's dir auch bestimmt nicht übel. Ich weiß, dass das Ganze etwas komisch ist, und, äh, also, ich komm mir gerade ein bisschen blöd vor, so hier zu stehen und Selbstgespräche zu führen. Also, wenn du mich hören kannst, könntest du mir dann vielleicht irgendwie ein Zeichen geben?«
Plötzlich dröhnt meine Stereoanlage mit diesem Song von Kelly Clarkson los, den sie früher immer gesungen hat.
Ich öffne die Augen und sehe sie vor mir stehen. Sie kriegt sich vor Lachen gar nicht mehr ein.
»Au warte - du hast ausgesehen, als ob du gleich die Rollos runterlässt und das Ouija-Brett unterm Bett vorholst!« Kopfschüttelnd sieht sie mich an.
»O Mann, ich komme mir vor wie eine Idiotin«, stammele ich, und mein Gesicht läuft rot an.
»Irgendwie hast du auch ausgesehen wie 'ne Idiotin.« Wieder lacht sie. »Also, nur damit ich das richtig verstehe, du willst deine kleine Schwester auf Abwege bringen, indem du sie dazu bringst, deinem Freund nachzuspionieren.«
»Woher weißt du das?« Verdattert starre ich sie an.
»Bitte.« Sie verdreht die Augen und lässt sich auf mein Bett plumpsen. »Glaubst du etwa, du bist die Einzige, die hier Gedanken lesen kann?«
»Und woher weißt du das?«, frage ich und überlege, was sie am Ende noch alles weiß.
»Ava hat's mir erzählt. Aber sei bitte nicht sauer, denn das erklärt wirklich ein paar von deinen Fehltritten in Sachen Mode in letzter Zeit.«
»Und was ist mit deinen Fehltritten in Sachen Mode in letzter Zeit?«, entgegne ich und deute auf ihr Star-Wars-Kostüm.
Doch sie zuckt nur die Achseln. »Also, willst du jetzt wissen, wo dein Freund zu finden ist oder nicht?«
Ich gehe zum Bett hinüber und setze mich neben sie. »Ganz ehrlich? Ich bin mir nicht sicher. Ich meine, ja, ich will's wissen, aber ich fühl mich nicht wohl dabei, dich da mit reinzuziehen.«
»Was ist, wenn ich das schon getan habe? Was ist, wenn ich's schon weiß?«, fragt sie und wackelt mit den Augenbrauen.
»Du bist in die Schule eingestiegen?«, stoße ich hervor und überlege, was sie wohl noch alles getrieben hat, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben.
Doch sie lacht nur. »Sogar noch besser, ich bin ihm nach Hause gefolgt.«
Ich starre sie mit offenem Mund an. »Aber wann denn? Und wie?«
Sie schüttelt den Kopf. »Komm schon, Ever, ich brauche doch kein Auto, um da hinzukommen, wo ich hinwill. Außerdem, ich weiß doch, dass du total in ihn verknallt bist, und ich kann's dir auch nicht verdenken, er ist echt ziemlich Klasse. Aber weißt du noch, wie er sich so benommen hat, als könnte er mich sehen?«
Ich nicke. Ich meine, wie könnte ich das vergessen.
»Na ja, ich war total erschrocken. Also hab ich beschlossen, ich ermittle mal ein bisschen.«
Ich beuge mich zu ihr hinüber. »Und?«
»Und, na ja, ich weiß nicht so recht, wie ich das sagen soll, und ich hoffe, du kriegst das jetzt nicht in den falschen Hals, aber ... er ist ein bisschen seltsam.« Sie hebt die Schultern. »Ich meine, er wohnt in so einem großen alten Haus drüben in Newport Coast, und das ist ja schon merkwürdig genug, wenn man sein Alter bedenkt. Ich meine, wo kriegt er die Kohle her? Es ist ja nicht so, als würde er arbeiten.«
Der Tag auf der Rennbahn fällt mir wieder ein. Doch ich beschließe, diese Begebenheit nicht zu erwähnen.
»Aber das war noch nicht mal das Sonderbarste«, fährt sie fort. »Denn was wirklich komisch ist, das Haus ist vollkommen leer. Also überhaupt keine Möbel oder so.«
»Na ja, er ist halt ein Mann«, gebe ich zu bedenken und frage mich, warum ich das Bedürfnis verspüre, ihn zu verteidigen.
Riley schüttelt den Kopf. »Ja, aber ich rede hier von einer echt abgedrehten Nummer. Ich meine, das Einzige da drin sind so eine iPod-Ladestation und ein Flachbildfernseher. Im Ernst. Das ist alles. Und glaub mir, ich hab das ganze Haus durchsucht. Na ja, bis auf das eine Zimmer, das war abgeschlossen.«
»Seit wann lässt du dich denn von abgeschlossenen Räumen abschrecken?«, frage ich; ich habe sie im Laufe des letzten Jahres durch jede Menge Wände gehen sehen.
»Glaub mir, es war nicht die Tür, die mich zurückgehalten hat. Ich war's, die mich zurückgehalten hat. Ich meine, Mann, nur weil ich tot bin, heißt das doch nicht, dass ich keine Angst habe.« Sie sieht mich finster an.
»Aber er wohnt ja auch noch gar nicht lange da«, beeile ich mich, weitere Ausreden zu finden, wie die letzte Beziehungsgestörte. »Also ist er vielleicht noch nicht dazu gekommen, das Haus einzurichten. Ich meine, wahrscheinlich will er deswegen nicht, dass ich zu ihm komme. Er will nicht, dass ich es so sehe.«
Und als ich meine Worte im Kopf noch einmal ablaufen lasse, denke ich unwillkürlich: 0 Gott, ich bin ja noch schlimmer, als ich gedacht habe.
Riley mustert mich kopfschüttelnd und sieht aus, als wäre sie drauf und dran, mir die Wahrheit über die Zahnfee, den Osterhasen und den Weihnachtsmann zu offenbaren, alles in einer Sitzung. Doch dann sagt sie achselzuckend: »Vielleicht solltest du's dir mal selber ansehen.«
»Wie meinst du das?« Ich weiß genau, dass sie mit irgendetwas hinter dem Berg hält.
Statt einer Antwort, steht sie vom Bett auf und geht zum Spiegel hinüber, wo sie sich eingehend betrachtet und ihr Kostüm zurechtzupft.
»Riley?«, frage ich und überlege, warum sie so geheimnisvoll tut.
»Hör zu«, sagt sie und dreht sich endlich zu mir um. »Vielleicht irre ich mich ja. Ich meine, was weiß ich denn schon? Ich bin ja bloß ein Kind. Und wahrscheinlich ist da auch gar nichts dran, aber ...«
»Aber...«
Sie holt tief Luft. »Aber ich denke, du solltest dir das selbst ansehen.«
»Und wie kommen wir da hin?«, erkundige ich mich und bin bereits auf den Beinen, greife nach meinem Autoschlüssel.
Heftig schüttelt sie den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Vergiss es. Ich bin mir ganz sicher, dass er mich sehen kann.«
»Na ja, wir wissen, dass er mich sehen kann«, entgegne ich.
Doch sie lässt sich nicht umstimmen. »Das läuft so was von überhaupt nicht. Aber ich zeichne dir eine Karte.«
Da Riley es mit dem Kartenzeichnen nicht so hat, begnügt sie sich damit, mir stattdessen eine Liste mit Straßennamen zu geben und darauf zu vermerken, wo man links oder rechts abbiegen muss, denn mit Norden, Süden, Osten und Westen komme ich immer durcheinander.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, frage ich, nehme meine Tasche und verlasse das Zimmer.
Sie nickt und folgt mir nach unten.
»Hey, Ever?«
Ich drehe mich um.
»Du hättest mir das mit dem Hellsehen ruhig sagen können. Ich habe echt ein schlechtes Gewissen, weil ich mich über deine Klamotten lustig gemacht habe.«
Achselzuckend öffne ich die Haustür. »Kannst du wirklich meine Gedanken lesen?«
Sie schüttelt den Kopf und lächelt. »Nur wenn du versuchst, mit mir zu kommunizieren. Ich hab mir gedacht, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis du möchtest, dass ich ihm nachspioniere.« Sie lacht. »Aber, Ever?«
Ich drehe mich wieder um und sehe sie an.
»Wenn ich mal eine Zeit lang nicht vorbeischaue, dann mache ich das nicht, weil ich sauer auf dich bin oder dich bestrafen will oder so, okay? Ich versprech's, ich komme auch weiter vorbei und gucke, ob du in Ordnung bist und so, aber, na ja, vielleicht bin ich mal eine Weile weg. Hab vielleicht zu tun.«
Ich erstarre, die ersten Anzeichen der Panik beginnen sich zu regen. »Aber du kommst doch wirklich zurück, nicht wahr?«
Sie nickt. »Es ist nur, na ja ...« Sie zieht die Schultern zusammen. »Ich komme zurück, versprochen, ich weiß bloß nicht, wann.« Und obwohl sie lächelt, ist das Lächeln ganz offensichtlich erzwungen.
»Du verlässt mich doch nicht, oder?« Ich halte den Atem an und atme erst aus, als sie den Kopf schüttelt. »Okay, na dann viel Glück.« Ich wünschte, ich könnte sie umarmen, sie festhalten, sie zum Bleiben überreden, doch da ich weiß, dass das nicht möglich ist, gehe ich zu meinem Wagen und lasse den Motor an.